Mein Treffen mit Gregor Gysi

Wer Autogramme und Autographen der deutschen Nachkriegsgeschichte mit Schwerpunkt Deutsche Einheit sammelt, den interessieren natürlich gerade Politiker der Wendejahre 1989/90.

Hatte Lothar de Maizière die überaus dankbare, aber auch sehr anstrengende Aufgabe, die DDR nach den ersten freien Wahlen im März 1990 fit für den Beitritt zu machen, so hatte er in seinem Gegenspieler Gregor Gysi (damaliger PDS-Chef) alles andere als einen Unterstützer.

Ausgerechnet Oppositionsführer Gysi nutzte am 23. August 1990 die Gelegenheit den legendären Beitrittsbeschluss der DDR zur Bundesrepublik zum 3. Oktober 1990 in passende Schlussworte zu packen: “Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 beschlossen.”

Genau diesen legendären Satz sollte mir Gysi bei seinem Besuch in Steinau an der Straße zu Papier bringen. Bürgermeister Malte Jörg Uffeln hatte den Polit-Profi im Frühjahr 2017 zu einem Vortrag über das Thema “Monster Bürokratie?” in die Brüder-Grimm-Stadt eingeladen.

(Foto: Carina Jirsch)

Anlässlich seiner Visite in Steinau war im Vorfeld der Abendveranstaltung ein Besuch des Museums Brüder Grimm-Haus geplant. Vor dem Museum wollte ich Gysi abfangen und mir meinen Spruch abholen. Auf dem Weg zum Museum lief ich dem Bürgermeister in die Arme, der mit einer kleinen Delegation auf Gysi wartete. Spontan lud er mich ein, als „Schirmherr“ für Gysi zu fungieren, da es leicht regnete und ich einem roten Schirm mit Aufdruck „Berlin“ dabei hatte. Wie passend.

Es regnet leider nicht, aber als Teil der Begrüßungsdelegation war ich plötzlich ganz nah dran am Geschehen. Der Bürgermeister stellte mich Gysi, dem Präsidenten der europäischen Linken, mit den Worten vor: „Das ist der Mann, der mit sämtlichen Astronauten auf der Welt per Du ist.“ Ich nahm die schwere Übertreibung mit Gelassenheit und Schmunzeln auf.

Während des Rundganges durch das Museum legte ich Gysi neben dem Gästebuch auch ein Blatt mit Foto von ihm in der Volkskammer vor. Den geforderten Spruch, „von der Bild-Zeitung falsch zitiert“ (Zitat Gysi), bekam ich nicht, dafür schrieb er: „Die Sache stets ernster nehmen als sich selbst. D.h. man muss aufhören können, zu siegen.“ Der Spruch, sagte mir Gysi, trifft auch im Privaten zu. „Versuchen Sie zu Beginn einer Ehe nur drei bis viermal zu siegen, sonst landen Sie bei mir. Ich bin auch Scheidungsanwalt.“

Den Abend zog der Schwerkaräter unter den deutschen Politikern mit gewohnter Souveränität über die Bühne. Der begnadete Redner plauderte über zwei Stunden vor 170 Gästen über Gott und die Welt. Anschließend stand er den Gästen noch eine Stunde für Fragen zur Verfügung. Gregor Gysi ist authentisch, blitzgescheit, an der Sache orientiert, streitbar, aber nicht verletzend, witzig und durchaus ein wenig eitel. Für manche Äußerung, gerade wenn es um soziale Ungerechtigkeit ging, erhielt er oft zustimmenden Applaus. So müsse lt. Gysi der Spitzensteuersatz herauf gesetzt werden: “53 Prozent, mehr will ich gar nicht. Dann können wir die Mitte endlich entlasten. Es wird höchste Zeit.”

Auf die Frage, was besser ist, Schwarz/Grün oder Rot/Rot/Grün sagte Gysi: “Es ist bekannt, dass die Grünen nicht abgeneigt sind, mit der Union zu koalieren. Ich habe dann neulich zu Cem Özdemir gesagt: Wenn die Grünen mit CDU/CSU zusammengehen, dann wandern alle Konservativen bis zur übernächsten Bundestagswahl zur AfD ab. Willst du das? Da bekam Cem große Augen.”

(Foto: Carina Jirsch)

Nach dem Vortragsabend mit anschließender Talk-Runde lud mich Bürgermeister Uffeln, zu meiner völligen Überraschung, noch zum gemütlichen Beisammensein – mit Gregor Gysi – ein. Der völlig entspannte 69-jährige Polit-Profi, ohne Starallüren, saß direkt neben mir und plauderte in kleiner Runde noch zwei Stunden aus seinem bewegten Leben.
So erzählte mir Gysi u.a., dass er als Talkmaster im Berliner Theater nur seine Gäste zu Wort kommen lässt und er sich selbst völlig zurückhält. Auf meine Bemerkung: „Das fällt Ihnen sicher schwer.“ antwortete Gysi: „Wer ein guter Redner sein will, muss Zuhören können.“ Auf meine Frage „Was machen Sie denn noch alles?“ antworte er mir: „Ich habe vier Berufe: Politiker, Rechtsanwalt, Moderator und Publizist. Ich arbeite z.Zt. an meiner Autobiografie.“ (Anmerkung: Seit Anfang 2018 erschienen.)

Der Postbeleg mit den Unterschriften von Ministerpräsident Lothar de Maiziére, Oppositionsführer Gregor Gysi und DDR-Außenminister Markus Meckel dokumentiert auf besondere Weise den letzten Tag der DDR.

In einem Interview mit der Zeitschrift BUNTE wurde Gysi einmal gefragt, welchen Ministerposten er bei einer Regierungsbeteiligung der Linken für sich beanspruche. Er erwiderte grinsend: “Ministerposten? Ich will Bundeskanzler werden.”

Wer ist “Gregor GYSI”?
Dr. Gregor Gysi, geboren 1948 in Berlin, ist deutscher Jurist und Politiker der Partei “Die Linke”. Als Rechtsanwalt in der DDR verteidigte er Regimekritiker und Bürgerrechtler wie Rudolf Bahro, Robert Havemann, Ulrike Poppe und Bärbel Bohley und vertrat die Bürgerbewegung „Neues Forum“.

Er war seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages, dem er bereits von 1990 bis 2000 angehörte. Zuvor fungierte er im ersten frei gewählten DDR-Parlament als Oppositionsführer der SED-Nachfolgepartei PDS. Von 2005 bis 2015 war er Fraktionsvorsitzender der “Linken”. Mit Amtsantritt des dritten Kabinetts Merkel im Dezember 2013 wurde Gysi zusätzlich Oppositionsführer im Bundestag. Im Dezember 2016 wählte ihn die Europäische Linke zum Präsidenten. Gysi ist eine zentrale Figur seiner Partei und wurde bei der Bundestagswahl am 24. September 2017 als Direktkandidat für seinen Berliner Wahlkreis Treptow-Köpenick wiedergewählt.

Mit seinen Reden fasziniert er bis heute selbst seine politischen Gegner. Als Fraktionsvorsitzender führte er die Partei „Die Linke“ zehn Jahre lang, bis er im Herbst 2015 von der Bundesfraktions-Spitze abtrat. Nach seinem Rücktritt aus der ersten Reihe der Politik verkündet Gregor Gysi seine rebellischen Gedanken nun auf anderen Bühnen.